Nähre mit liebevollem Geist, noch mehr als ein Kind,
die scheinbar existenten feindseligen Götter und Dämonen
und umgib dich zärtlich mit ihnen.
Machig Labdrön (1055-1145)
Die Dämonen, die hier gemeint sind, sind keine Gespenster, Kobolde oder satanische Wesen. Als Machig Labdröhn erklären sollte, was Dämonen sind, sagte sie: „Was wir Dämonen nennen, sind keine real existierenden, greifbaren riesenhaften schwarzen Gestalten, die jedem, der sie sieht, Angst und Entsetzen einjagen. Ein Dämon ist alles, was die Befreiung behindert.“
Unsere Dämonen sind keine fratzenhaften Geistergestalten aus dem Tibet des 11. Jahrhunderts. Vielmehr sind sie das, was uns im Kopf herumgeht, die Probleme, die wir im Leben haben und die uns daran hindern, Freiheit zu erfahren. Unsere Dämonen können zum Beispiel den Konflikten entspringen, die wir mit einem geliebten Menschen haben, mit unserer Flugangst oder dem Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir uns im Spiegel betrachten.
Versagensangst könnte ein bestimmter Dämon sein oder die Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol, Drogen, Pornografie oder Geld. Unser Dämon kann dafür sorgen, dass wir Angst vor dem Verlassenwerden haben, oder uns dazu anstacheln, diejenigen zu verletzen, die wir lieben. Eine Person mit einer Essstörung hat möglicherweise einen Dämon, der riesige Mengen Süßigkeiten oder fette Speisen fordert. Der Dämon der Magersucht flüstert uns ein, dass wir versagt haben, wenn wir etwas essen, und nie dünn genug sein werden. Und ein Angstdämon macht uns vielleicht weis, dass wir keine großen Höhen vertragen oder nicht im Dunkeln spazieren gehen können.
Obwohl die meisten Menschen behaupten, nicht an Dämonen glauben, ist das Wort immer noch im Gebrauch, und wenn wir es hören, wissen wir, was gemeint ist. So bezeichnet vielleicht jemand sein Verhaltensmuster der Eifersucht als „teuflisch“, er wird „von alten Gespenstern heimgesucht“, oder man sagt: „Sein Dämon trieb ihn dazu, sich so zu verhalten.“ Bekannt ist auch der Ausspruch, dass jemand „Gespenster sieht“ oder das Kriegsveteranen mit den „Dämonen“ einer posttraumatischen Störung zu kämpfen haben.
Dämonen sind letztlich eine Funktion des Geistes und besitzen als solche keine unabhängige Existenz. Trotzdem beschäftigen wir uns mit ihnen, als wären sie real, und glauben daran, dass es sie gibt – man fragt nur einmal jemanden, der gegen posttraumatischen Stress, eine Sucht oder Angstattacken ankämpft. Dämonen tauchen im Leben immer auf, ob wir wollen oder nicht, ob wir sie selbst herausbeschwören oder nicht.
Der Geist nimmt Dämonen als real wahr, und so kommt es, dass wir in einen Kampf mit ihnen verwickelt werden. Normalerweise stärkt unsere Gewohnheit, gegen angebliche Probleme anzugehen, die Dämonen noch, statt sie zu schwächen. Im Grunde wurzeln alle Dämonen in unserer Neigung zu polarisieren. Diese Tendenz, des vermeintlichen Dämons Herr zu werden und alle Dinge als entweder/oder einzuordnen, müssen wir erst einmal erkennen und mit ihr umgehen lernen. Dadurch befreien wir uns von den Dämonen, denn wir entziehen ihnen ihre Existenzgrundlage.
Wir projizieren Dämonen auch gern auf andere. Wenn wir das ins Auge fassen, was wir bei anderen hassen, sehen wir für gewöhnlich nur ein Spiegelbild unserer eigenen Dämonen. Wenn wir uns die anschauen, die wir kritisieren oder zu kontrollieren versuchen, stoßen wir auf die Dämonen, die wir selbst in uns tragen. Sobald wir handeln, als hätten wir keinen Schatten, sind wir besonders anfällig dafür, von unseren Dämonen übermannt zu werden.
Auszug aus dem Buch „Den Dämonen Nahrung geben“ Tsültrim Allione